Latent Measures

AWST & WALTHER

30. Apr – 28. May 2011

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Parallel zum diesjährigen Gallery Weekend zeigt Martin Kwade die erste Einzelausstellung von Awst & Walther im Kwadrat. Charakteristisch für das in Berlin und Wales lebende Künstlerduo ist die Auseinandersetzung mit einem breit gefächerten Materialspektrum, das in die Realisierung von raumumfassenden Installationen mündet. Im Zentrum steht die kritische Reflexion der jeweils gegebenden architektonischen Bedingungen zugunsten des Auslotens möglicher Raumvarianten, die die Sehgewohnheiten des Rezipienten verändern sollen. Diesem Verständnis folgend arbeiten Awst & Walther direkt mit den ortsspezifischen Grundkonstanten, aber auch mit Vorgeschichte und Funktion des Raums und nutzen ihn dabei weniger als Display oder reine Hintergrundfolie für die eigenen Arbeiten.

Der Besucher wird bei seinem Eintreten daran gehindert, den Raum wie sonst üblich nach Belieben zu durchschreiten, um einzelne Kunstwerke genauer in Augenschein zu nehmen oder sich an die Bar zu begeben.

Ein silbern schimmerndes, diagonal im Raum verankertes Aluminiumrohr stellt sich ihm in den Weg. Beim Öffnen der Tür erfolgt diese Konfrontation unerwartet, ohne dass in diesem Moment Herkunft und Ausdehnung des Objekts genauer zu erfassen sind. Erst wenn der Betrachter die Stufen hinabgestiegen ist und sich in unmittelbarer Nähe des Rohrs befindet, erkennt er auf der linken Seite, an welcher Stelle es aus der Wand heraustritt. Noch bleibt das Ende verborgen.

Da auf Brusthöhe angebracht, ist man gezwungen, sich zu bücken, um seinen Weg fortzusetzen. Wendet man sich nun dem Verlauf folgend nach rechts, muss man erneut unter dem Rohr abtauchen, um zu erfahren, wie es die Wand durchbohrt und wo es sein Ende findet.

Ähnlich der zu Beginn des Jahres gezeigten Installation anlässlich der Ausstellung ?Light Without Shadow? in der Londoner Hannah Barry Gallery zerschneidet das Aluminiumrohr den Raum und verbindet zugleich die einzelnen Kompartimente. Diese Ambivalenz lenkt die Wahrnehmung des Betrachters und gibt die Lese-, damit Bewegungsrichtung vor. Während in London der Besucher mühelos über das in Bodennähe angebrachte Rohr steigen konnte, wird hier in der Berliner Ausstellung seine massive Stabilität und Präsenz betont. Durch diese raumspezifische Rhythmik entsteht ein Moment der Verfremdung und Irritation.

Die Materialeigenschaften und die reduzierte Formensprache kontrastieren mit der aus einer Performance heraus entstandenen Wandarbeit. Durch den Akt der Entkleidung entwickeln die ihrer Funktion beraubten Stoffe ein visuelles Eigenleben. In nassen Gips getaucht, verschmelzen sie mit der Wand zu einer reliefartigen Struktur, deren zerklüfteter Faltenwurf skulpturalen Draperien gleicht.

Die Erinnerung manifestiert sich hier als Spur ihrer selbst und als Referenz auf die Abwesenheit einer Person. Die flüchtige, teils schamhafte Geste des Entkleidens findet eine Übertragung in die Konstante des Reliefs. Das in der Kunstgeschichte vielfältig verwendete Material Gips, sei es in der Freskotechnik oder beim Bozzetto des Bildhauers, erlaubt zwar im Prozess des Trocknens noch eine dynamische, schnelle Handhabe, lässt danach jedoch Korrekturen nicht mehr zu. Konträr zur stählernen Härte von Aluminium bleibt die Oberfläche dieser sich formenden Collage nachgebend und leichter zerstörbar. Während das Rohr aus einer genormten industriellen Fertigung stammt, werden im Relief Assoziationen an den künstlerischen Prozess per se und eine individuelle Handschrift geweckt.

Jedes der abgelegten Kleidungsstücke dokumentiert eine spezifische Form von Zeitlichkeit. Wie Schatten, flüchtig an einen vergangenen Moment erinnernd, erzählen sie ihre eigene Geschichte und die der jeweiligen Person, deren Verhüllung und Identitätsstiftung sie dienten.

Je trockener die Gipscollage wird, desto mehr verschmelzen Wand und Objekt, desto mehr gehen die flüchtig hingeworfenen Stoffe eine Symbiose mit ihrem weißen Bildträger ein - bis zum Verblassenen ihrer ursprünglichen Herkunft.

Einer verlassenen Ruine gleich breitet sich die Erinnerung in konvexer Form in den Raum aus und findet zu neuer Gestalt. Wie ein kryptischer Torso lassen sie an entschwundene Körper denken, die ihrer Hülle entbehren ? ähnlich der metaphorischen Beschreibung Georges Didi-Hubermans in seiner Ninfa Moderna:

?Die Orgie der antiken Götter hinterlässt den später gekommenen Menschen immer sichtbare Reste, diese schöne Lumpen. Irritierend für das Schicksal, das er dem Anthropomorphismus bereitet: die menschliche Form hat sich tatsächlich verflüchtigt. Aber sie bleibt als Suspense ? oder vielmehr als Krümmung, als Rebus ? als letztmögliche Form menschlichen Begehrens gegenwärtig. Etwas wie ein Fetzen Zeit.?

Die Frage nach Zeit ist auch dem ausstellungsgebenden Titel ?Latent Measures? inhärent. Neben der Faszination für Maßeinheiten und Rhythmen, die der Welt unbewusst eingeschrieben sind, der Korrelation zwischen verschiedenen Objekten und ihrer Beziehung zum umgebenden Raum sowie den daraus resultierenden Wahrnehmungsveränderungen steht das Interesse für Materialtransformationen und gattungsübergreifende Kooperationen im Zentrum des künstlerischen Oeuvres von Awst & Walther.

So hat Andreas Reihse, ein Mitglied der Elektroband ?Kreidler? aus Düsseldorf/Berlin, speziell für ihre Installation einen begleitenden Soundtrack konzipiert. Die mit ?Darksteel Ohm? betitelte Klangcollage vermittelt den Eindruck einer düster, leeren und dunkel wirkenden Atmosphäre, erinnert an Industrieklänge verlassener Gegenden der menschlichen Zivilisation. Dumpfe, langsame Tonabfolgen werden von einzelnen Pulsschlägen durchbrochen und klingen wie aus weiter Ferne nach. Ähnlich den Objekten der Ausstellung durchkreuzen sie den Weg des Betrachters und unterstützen die Manipulation seiner Wahrnehmung.

Ursula Ströbele