Elana Katz

Anti-Utopias:
https://anti-utopias.com/editorial/spacing-memories/

Noizz:
http://noizz.ro/big-stories/elana-katz-is-a-conceptual-artist-who-uses-her-body-to-express-herself/xx6gyve

Chicago Reader, "Elana Katz: Translator of Trauma" by Mia Harrison:

https://www.chicagoreader.com/chicago/elana-katz-defibrillator-running-on-empty-v/Content?oid=74072562&fbclid=IwAR0U3SqOBhCAw7QX6tgDCJkMmvbPgxkfKh4vOBQRdWoS613l9mgYXV7mtCM

NY Arts Magazine:

http://nyartsmagazine.net/leah-oates-breaks-open-creative-process-elana-katz/

Sleek Magazine:

https://www.sleek-mag.com/article/emerging-berlin-artists/

The Wise Fool Podcast:

http://wisefoolpod.com/performance-artist-elana-katz-berlin-germany/

House for the End of the World
Ein dystopisches Heiligtum in apokalyptischen Zeiten

Als ich diesen Februar der Künstlerin und Kuratorin Elana Katz anbot ihr neues Projekt zu beglei­ten und redaktionell festzuhalten, konnten wir uns vermutlich Beide nicht vorstellen, wie schon bald der Titel des neuen Projekts und der Ausstellung House for the End of the World den aktuellen Zeitgeist auf seine ganz eigene Art und Weise deskriptiv einfängt. In einer unrenovierten und leer­stehenden 2 Zimmer Wohnung in Berlin Kreuzberg findet Katz eine neue experimentelle Plattform. Zusammen mit den Künstlern Leonardo Borri, Exildiscount, dem Künstlerduo Natalia Korotyaeva und Alessandro Rauschmann sowie Dario Srbic und in Kooperation mit der Galerie KWADRAT, entstehen ortsspezifische Arbeiten und ein Raum für kritische Diskurse. Zunehmend wird die Vor­bereitung und Umsetzung der Ausstellung von einen der einschneidendsten Ereignisse der spät­modernen Zeitgeschichte – durch die Covid-19-Pandemie – begleitet. Fern von der ursprünglichen Idee öffnete am 28.03.2020 das erste Event des House for the End of the World über die digitale Alter­native eines Live-Streams. Eine Entwicklung die eine Chance bietet grundlegende Fragen über zu­künftige Ausstellungspraxis und die Rezeption von Kunst nachzudenken.

Die Geburt des House for the End of the World
Der Ursprung des HEWs reicht weit in die Vergangenheit zurück. Der Titel zur aktuellen Ausstel­lung stammt aus der Feder des Künstlers Leonardo Borri, und gab bereits elf Jahre zuvor einem kollektiven Projekt seinen Namen. In vier Tagen stellten Borri und Katz zusammen mit den Künst­lern Ford Spencer und Philip Metz sich ihrer eigenen inneren Apokalypse.
Heute ist das Konzept des Projekts ein anderes, besitzt unter Umständen einen ähnlichen Antrieb und ist vielleicht auch deswegen einleuchtender Namensgeber der Ausstellung und des neuen Projekts. Die Wohnung im Erdgeschoss befindet sich in einer Phase des Übergangs. Temporär als Stätte für Kunst genutzt, ist die Vorgeschichte der leerstehenden Wohnung nicht bekannt, soll für das Gesamtkonzept eine untergeordnetere Rolle spielen, wirft dennoch grundsätzliche Fragen auf, die zum Nachdenken anregen. Es geht um einen höchst sensiblen und verantwortungsbewussten Umgang mit solch einem einzigartigen Möglichkeitsraum in einem stark gentrifizierten Viertel Berlins. Bezahlbarer Wohnraum ist eine Mangelware, Mieten steigen und Investoren kommen. Zeitgleich ist die goldene Ära der Off-Szene der 90er/ Anfang der 2000er Jahre in Berlin lange vor­bei und Ausstellungsräume wie diese sind ein ein gern angenommenes Geschenk. Ein Paradoxon das den Kulturschaffenden schmerzlich vor Augen führt, dass sie in einem autopoietischen System gefangen sind. Die Kunst soll alles andere sein als ein Katalysator für Gentrifizierung, so auch das Projekt und die Kunst der teilnehmenden Künstler*Innen des House for the End of the World. Man erinnere sich an das Graffiti auf dem Curvy-Gelände des Street-Art-Künstlers Blu, der mit der Übermalung seines Werkes verhinderte, dass Investoren von seiner Arbeit profitieren.

Anfang März konkretisiert sich die Vorbereitung auf die Ausstellungen im HEW. Parallel hierzu verbreitet sich weltweit das Corona-Virus wie ein Lauffeuer. Die politischen Restriktionen werden härter, Grenzen werden geschlossen, das öffentliche Leben wird bis auf ein Minimum reduziert und soziale Distanzierung ist das Mittel der Wahl. Die interne Kommunikation innerhalb des Pro­jekts verschiebt sich an den möglichen Stellen in die digitale Welt. Leonardo Borri, der in Italien lebt, kann nicht mehr an der Ausstellung vor Ort teilnehmen und schickt gezwungener Maßen „von Quarantäne in Quarantäne“ seine Werke ohne ihn nach Berlin. Was vorher schon dämmert und mit den Beschlüssen der Bundesregierung und der Bundesländer vom 22. März offiziell ist – die Ausstellung wird virtuell über einen Live-Stream stattfinden. Die Umstrukturierung ist eine Art Ex­periment, welches zugleich eine Chance bietet. Der Live-Stream wird als ein stilistisches Mittel an­genommen und ohne ein Übermaß an technologischen Aufwand umgesetzt. Man nutzt die alltägli­chen digitalen Kommunikationsmittel der sozialen Medien, die am Ende Teil unseres derzeitigen Universums sind. Technische Schwierigkeiten oder die Filtrierung des Realen, sind Zeugnis und Akzeptanz des Bestehenden. Die Kameraführung besitzt ein hohes Maß an Authentizität und er­zeugt einen privaten Einblick, der das kuratorischen Konzept unterstreicht.

Der Raum – Zeuge des Nicht-Sichtbaren und Repräsentant des Körpers des Künstlers
Ist das House for the End of the World erst einmal betreten, taucht man in changierende Welten ein. Jedem Künstler ist ein Raum der 2 Zimmerwohnung zuteil und wird auf ganz individueller Wei­se zum Repräsentanten des Einzelnen. Die Räume sind der Ausdruck ihrer eigenen inneren Welt oder ihrer Wahrnehmung. Je tiefer man eintaucht, desto mehr entsteht das Gefühl das innere We­sen, die Psyche oder das Physische, des Künstlers zu greifen. Die Arbeiten haben gemein, das Nicht-Sichtbare sichtbar zu machen. Sie visualisieren etwas, das mit dem bloßen Auge nicht zu er­kennen ist und werden durch Wiederholung, dem Prozeduralen und der Rekontextualisierung er­sichtlich. Dabei stehen die mehrheitlich ortsspezifischen Arbeiten mit der entstandenen Lücke des Ortes in einem Zusammenhang und offenbaren eine Präsenz des Abwesenden.

Der Live-Stream beginnt mit der Performance Silenzio Akt 1 (2020) des Künstlers Alessandro Rauschmann. Auch hier sind die Konsequenzen aus der Coronakrise deutlich in der Konzeption der Performance spürbar, da das Duo und Paar, bedingt durch die politischen Restriktionen, kur­zerhand arbeitsteilig handeln muss und Rauschmann für das erste Event eine autonome Perfor­mance vollzieht. Betritt man den Raum des Künstlers fällt zunächst die Raum in Raum Situation auf. Die Performance findet sowohl in einem inneren als auch in einem äußeren Raum statt. Diese werden durch einen schwarzen Vorhang voneinander getrennt und formen nun im äußeren Raum eine Art Korridor, der es ermöglicht den inneren Raum zu umgehen. Auf der Fensterbank des äu­ßeren Raums findet sich eine Infusionsflasche, gefüllt mit dem immer wiederkehrenden Medium des Künstlers, der schwarzen Tinte, und ein Abwurfbehälter für Kanülen und Spritzen. Es sind Ob­jekte die aus der Lebensrealität des Künstlers stammen, auf die eigene Erkrankung verweisen und die Grenze zwischen Kunst und Leben verwischen. Ebenso befinden sich in jeder der Ecken des Korridors Scheinwerfer, die den äußeren Raum in eine Dämmerung versetzen und zugleich den in­neren Raum als eine Bühne präsentieren. Die äußere Lichtsituation führt in die der Inneren hinein, das Schwarzlicht wird zu einer Art Anti-Licht einer „Schattenwelt“. Im Inneren vollzieht sich die ei­gentliche Performance, die einem Ritual gleichkommt. Der abgrenzende schwarze Vorhang formt sich zu einem Zelt. Ganz in der Manier des Künstlers ist Rauschmann in schwarzer Farbe gehüllt und spielt auf eine Spiritualität an, die immerzu einen Bestandteil seines Œuvres ausmacht, und ihn nun als einen „Kunstschamanen“ während seines Ritus zeigt. Der Künstler praktiziert eine Art Heilungsprozess, in dem er Kerzen anzündet, heißes flüssigen Wachs auf sein Körper tropft und die Flamme mit Desinfektionsspray und Pflastern heilt. Nach vierfacher Wiederholung, legt er sich zu den Kerzen nieder und bedeckt seinen Körper mit Asche. Getrieben von einer Dauerhaftigkeit seiner Präsenz und der Dokumentation seiner Handlungen, hinterlässt Rauschmann, wie schon in seinen Werken Sangue Spray (2016) oder dem Blutkuss (2012), ein Negativ seiner selbst. Die Kerze als bekanntes Motiv im Werk des Künstlers ist ein Schlüsselelement der Performance und ein Symbol für Vergänglichkeit. Wie auch in der Performance „Candle Walk“ (2016) ist sie ein Ver­weis auf die Zerbrechlichkeit des Lebens in Analogie zu ihrer Fragilität. Alessandro Rauschmann löst das Bestehende aus ihren ursprünglichen Kontexten und eigentlichen Funktionen, und verleiht ihnen durch vielfältige Kombinationen eine neue symbolische Bedeutung. Fließend wird aus Alltäg­lichem Mystisches und aus Profanen Sakrales. Silenzio Akt I kann im Kontext des Zeitgeschehens gesehen werden – das Leben ist krank und der Kunstschamane vollzieht ein Heilungsritual.

Die Live-Stream-Begehung des House for the End of the World wird mit der ersten konzeptionellen Arbeit des Komponisten, Produzenten, DJs und nun auch bildender Künstler – Exildiscount – fort­geführt. Ob bildende Kunst, musikalische Kompositionen oder Sound-Engeneering, Exildiscount arbeitet kritisch, decodiert und entwickelt neue komplexe Raumerfahrungen, die die normalen Wahrnehmungsmechanismen in Frage stellen. Er begibt sich in komplexe individuelle Geschich­ten, hinterfragt Konventionen und vorgefertigtes Wissen und nimmt alternative Perspektiven ein. Im ersten Event des House for the End of the World präsentiert Exildiscount eine der beiden Soundinstallationen, die Beide in der Phase der Konzeption des HEWs entstanden sind und in Verbindung zueinander stehen. Seine für das HEW konzipierten Arbeiten sind vermutlich die orts­spezifischsten aller Werke im Haus. Betritt man die Wohnung ist man umgehend mit seiner Arbeit Hold onto your Throne we're Going Down (2020) konfrontiert. Am Endes des Flurs erblickt man die einstige Toilette, die sich schon lange ihrer räumlichen Funktion entledigte und heute nicht mehr als Rückzugsort funktioniert. Am Spülkasten ist ein kleines Mikrofon montiert, dessen Kabel über ein Effektgerät zu einem Quader führt, aus dem ein Kopfhörer entspringt. Der Besucher ist dazu eingeladen in eine Interaktion mit der Arbeit zu treten, die Kopfhörer aufzusetzen und mit Neugierde die eigene Wahrnehmung zu erproben. Je nach individueller Interaktion changiert das Hörbare von einem beruhigenden zyklischen Geräusch und dem Rauschen einer Strömung, über verschiedenste Störgeräusche hin zu einer unkontrollierten Kakofonie. Die Arbeit spielt mit unseren Sinnen. Ihr Ursprung und die Vermischung des Hörbaren ist nur bedingt nachvollziehbar und wird durch den zur Installation dazugehörigen Quader, in dem die Kabel hinein und hinaus verlaufen, in die Irre geführt. Der Quader als solcher zeichnet sich durch eine Ambiguität aus. Er ist äußerlich wahrnehmbar, wohingegen der innere Sachverhalt sich nicht erschließen lässt – er wird zu einer Art Black Box. Diese Ambiguität wird durch den Untertitel der Soundinstallation Reflecting opon everyday Self-Spionage and a False Sense of Shame and Secruity bekräftigt und kann im Kontext von Datenmissbrauch und Überwachung gesehen werden. Es ist ein falsches Gefühl von Sicherheit, bei dem wir vielleicht nicht realisieren mit dem Feind unter einer Bettdecke zu liegen. Der Besucher kann selbst entscheiden Spuren zu hinterlassen und mit der Installation zu interagieren; auch mit der Möglichkeit sich in falscher Sicherheit zu wägen.
Ferner sind innerhalb der Wohnungen mehrere Kreuze auf dem Boden auszumachen. Es handelt sich hier um die Rückbestände der zweiten Arbeit des Künstlers. unbekannt verzogen. A Displaced Map of Invisible Forces (2020) setzt sich aus einer Performance und einer zukünftigen Soundinstallation zusammen. Die Installation hat die Wohnung und ihre unbekannte Geschichte zum Gegenstand und wird fern von ihrem eigentlichen Ursprung in einem anderen Ausstellungsort präsentiert werden. Die Arbeit beschäftigt sich mit der eingangs beschriebenen Thematik der Gen­trifizierung, der Verdrängung, den anteiligen Einfluss der Kunst und der hinterlassenen Lücke des Vormieters, die auf merkwürdige Weise präsent ist. Diese Präsenz des Abwesenden hat Exildiscount während seiner Performance mit einem Messgerät für elektromagnetische Felder auf­gezeichnet und dokumentiert. Die hörbaren Messungen werden anschließend in der Soundinstalla­tion verarbeitet. So konnte der Künstler auch elektromagnetische Ausschläge in unmittelbarer Nähe der Toilette verzeichnen und wurde folglich auf die erst präsentierte Arbeit aufmerksam. In der künstlerischen Herangehensweise von unbekannt verzogen wird man an die Pionieren der Klangkunst Christina Kubisch erinnert. Sowohl Kubisch als auch Exildiscount haben die Arbeit mit elektromagnetischen Feldern gemein und gestalten gleichwohl mit ihren ortsspezifischen Klangin­stallationen akustisch wahrnehmbare komplexe Raumerfahrungen, die sich mit der Atmosphäre und der Strukturen des Ortes der Aufzeichnung beschäftigen.

In der einstigen Küche der Wohnung befindet sich die fortlaufende Arbeit Landscapes of Pain (2020) des Künstlers Dario Srbic. Nach seinem MA in Fotografie widmet sich der in Berlin und Lon­don lebende Künstler zunehmend der digitalen Kunst und der Arbeit mit künstlicher Intelligenz. Al­gorithmen, Affective Computing und parametrisches Design bestimmen fortan seine künstlerische Methode. Dabei wird sein Schaffen stets von Fragen der Methodik und der Forschung nach der künstlerischen Materialisierung begleitet. Spielerisch werden die Potenziale der neuen Medien er­probt und philosophisch kritisch analysiert. Neben der Verhandlung wesentlicher Fragen zur Ethik im Umgang mit KI, weist seine Arbeit einen sehnsuchtsvollen Hang der Begierde auf. Srbic ver­steht die Arbeit mit Algorithmen und künstlicher Intelligenz nicht bloß als ein Werkzeug, sondern setzt stattdessen auf eine progressive kollaborative Praxis, in der Algorithmen ebenso ihre eigene künstlerische Freiheit besitzen. Srbics neue Arbeit für das HEW ist genau hier anzusiedeln und ist Teil seiner Serie Synthetic Eros. Landscapes of Pain ist eine parametrische Skulptur, die die bio­metrischen Daten des Schmerzes des Künstlers verkörpern. Bereits in früheren Arbeiten nutz er diese Praxis der Übersetzung von biometrischen Daten, sei es die des Herzschlags oder der galvi­nistischen Hautreaktion. Die einstige Küche der Wohnung versprüht seiner Empfindung nach ein ver­decktes Gefühl des Schmerzes, welches er über seine künstlerische Praxis nun übersetzen möch­te. Zunehmend füllt sich der Raum mit einzelnen kleinen nadelähnliche schwarzen Spitzen, mit unterschiedlichen Längen, die linear zueinander angeordnet sind. In ihrer Gesamtheit ergeben die einzelnen Plastiken eine Skulptur, deren Formenvielfalt der unterschiedlichen Spitzenlängen eine unsichtbare konkave und konvexe Oberfläche zeichnen. Der Künstler unternahm mehrere Messungen des Schmerzes an unterschiedlichen Stellen seines Körper. Den Schmerz fügte er sich über eine Nadel hinzu. Je nach Intensität, Dauer, Wiederholung oder Pausieren, schlug der Zeiger der Messungen aus. Die biometrischen Daten als Ergebnis seiner Schmerzenslandschaft, ergeben die Parameter des Algorithmus zur Berechnung einer virtuellen Oberfläche. Damit keine 1:1 Übersetzung entsteht und eine künstlerische Freiheit gewährleistet ist, fügt Srbic ein Störge­räusch – Perlin Noise – hinzu. Die entstandene Oberfläche aus den Daten wird im Anschluss als Schneidewerkzeug benutzt, sodass die Gesamtheit der einzelnen Objekte das Negativ der virtuel­len Ober­fläche ergibt. Bei einer Temperatur von 210 ° Celsius werden die digitalen Nadeln ge­schmolzen und in einem Prozess von ein bis zwei Stunden gedruckt. Mit seiner Arbeit liefert Dario Srbic wich­tige kunsttheoretische ästhetische Ansätze im Diskurs um den zunehmenden Einsatz von Technologien, kybernetische Ästhetik aber auch um die der Symbiose von Künstler und künst­licher Intelligenz. Welche Rolle wird der Künstler im digitalen Zeitalter zukünftig einnehmen und wie frei können künstlerischen Ausdrucksformen eines Algorithmus werden?

Das Werk des italienischen Künstlers Leonardo Borri beschäftigt sich mit existentiellen ontologi­schen Fragen und besitzt einem ähnlichen innigen Willen eine Dauerhaftigkeit der Präsenz, die dem Werk Alessandro Rauschmann ebenso innewohnt. Getrieben von derartigen Fragen, siedelt sich Borris kunsttheoretischer und -praktischer Ansatz im Bereich erkenntnistheoretischer Überle­gungen an. Beeinflusst von gnostischen und stoischen Lehren und Philosophien arbeitet der Künstler stets auf eine innere Apokalypse hin, die mittels kreativer und introspektiver Prozesse er­reicht wird und auf der Basis neuer Erkenntnisebenen Unbekanntes produziert. Das einstige House for the End of the World im Jahre 2009 markiert den Anfang seiner inneren Reise nach Ak­zeptanz der eigenen Grenzen und der Suche nach einem vollkommeneren Selbst, als Teil eines ganzheitlichen Ökosystems. Aus diesen kausalen Zusammenhängen folgt Borri der Konsequenz sich vom Gegenstand und der Materialität zu befreien und kommt in Folge dessen zu der Praxis die er tätigt – die Arbeit mit dem eigenen Körper und dessen Produkten. Die ausgestellten Werke für das erste Event des HEWs gleichen sich in ihrer grundsätzlichen Idee, unterscheiden sich jedoch medial und in ihrer visuellen Gestaltung. In den Papierarbeiten True Colors (2010) rieb der Künstler seine rechte Hand kontinuierlich auf ein Papier. Der Grad der geblichen Verfärbung des Papiers steht in Abhängigkeit zu der anhaltenden Dauer der Reibungen, die zwischen 30 Minuten und fünf Stunden variiert. Die Verfärbung des Papiers ist das Ergebnis aus körpereigenen Stoffen wie abgestorbene Hautpartikel oder Schweiß. Für Panspermia: a Work of a Certain Gravity (2010, fortlaufend) verwendete der Künstler abermals körpereigene Stoffe gepaart mit Partikeln seiner näheren Umgebung in Form von Staub. Jenen hauseigenen Staub, welchen er über eine Dekade hinweg sammelte, formt er mittels der japanischen Dorodango-Technik in verschieden große Kugeln. Ein weiterer Teil des Staubs ist im Eingangsbereichs seines Raums ausgelegt und ist dazu bestimmt vom Besucher weitergetragen zu werden. Der Titel und die Gestaltung der Arbeit verweisen auf die Hypothese der Panspermie, die von einem Forttragen kleinster primitiver Lebensformen mithilfe von Asteroiden, Kometen und Meteoriden im Universum ausgeht. In direkter Referenz zur Hypothese der Panspermie lässt sich das Konzept der Arbeit und des Künstlers sehen. Seine Werke haben sich von ihrem beheimateten Ursprung, vom Künstler gelöst und machen sich nun ohne ihn auf ihre Reise. Derartiges Schicksal ist auch den restlichen Werken Borris im HEW bestimmt. Er möchte, dass seine Arbeiten nicht den Weg zurück zu ihm nehmen und dass sie nach der Ausstellung zerstört werden, um sich im Anschluss in ihrer neuen Entität zu verbreiten. Durch die Zerstörung und Verbreitung der Werke erhalten sie eine neue zeitliche Kontinuität von der Vergangenheit bis in die Zukunft. Wie bei dem Tod eines Sterns durch eine Supernova verteilen sich die Materie ins Universum und neue Sterne können aus ihr entstehen.
Selten ist der Akt der Zerstörung in der Kunst(-geschichte) einer um der Zerstörung willen, sondern ist stets eine Befreiung des Künstlers zu neuen Perspektiven. Walter Benjamin beschrieb einst die Nachwirkung des destruktiven Charakters wie folgt: „Das Bild der Welt im Zustand der Zerstörung verschafft dem destruktiven Charakter gar ein Schauspiel tiefster Harmonie.“1.

Der Live-Stream der Ausstellung endet mit der Arbeit der Konzeptkünstlerin und Kuratorin der Aus­stellung Elana Katz. Das Werk der Künstlerin, welches vornehmlich seinen Ausdruck in der Performancekunst findet, visualisiert jenes, was von außen selten wahrnehmbar ist und außerhalb des Bewusstseins liegt. Ihre Arbeit dokumentiert Nonverbales, das jeder kennt, sich häufig der Lo­gik entzieht und mit dem tiefen Inneren verwoben ist. In ihrem Œuvre beschäftigt sich Katz mit dem Unbewussten, der Psyche, Traumata, dem prozeduralen Gedächtnis der individuellen und kollekti­ven Erinnerungen, wie auch die Einschreibungen äußerer „Gewalt“, beispielsweise ergeben aus kultureller Konvention oder Tradition. Sie spielt mit Widersprüchen und entlarvt dabei das Ver­meintliche. In Spaced Memory (2011-2018), ihrer vorangegangenen Werkreihe, konzentrierte sich die Künstlerin noch auf das kollektive (Post-)Gedächtnis und dessen Auslöschung sowie die Prak­tiken der Geschichtsaufzeichnung im Kontext ihrer eigenen kulturellen Herkunft und der jüdischen Gemeinde durch den Holocaust in der Balkanregion.
Heute versteht sie den Körper und die Psyche zunehmend als einen integralen Bestandteil von (lo­kaler) Geschichte. Als eine Art Archiv der Erinnerungen und Traumata dient der Körper nicht nur als ihr Instrument, Bühne oder Leinwand, sondern ist zugleich die Quelle des künstlerischen Aus­drucks. Gleichwohl nehmen theoretische Diskurse um Trauma, Dissoziation und der freudschen Theorie zum Wiederholungszwang spürbar platz in ihrer Arbeitsweise ein.2 Mittels dieser Erkennt­nisse soll nun das Unbewusste, das im Gedächtnis des Körpers gespeichert wird, untersucht wer­den. Eine Erweiterung ihrer Untersuchungen, welches das Konzept der Aus­stellung und der neuen Arbeit inspirierte. Die Besetzung geschlossener Räume als metaphorischer Ort des Körpers er­laubt ihr nun den Zugriff auf das Archiv des Körpers.
Love in the Time of Cholera, and Other Plaques (2020) ist eine ortsspezifische aktive Installation akkurater kleiner Gewalttaten, die fabrikal in Abwesenheit der Künstlerin produziert werden. Zu se­hen sind mehrere in weißen Stoff gehüllte aufeinandergestapelte Ziegelsteine, die in einer unter­schiedlichen Dauer von diversen Bügeleisen gebrandmarkt werden. Die unterschiedlich aber si­multan laufenden Kurzzeitwecker begleiten die arbeitende Installation und verleihen ihr eine Gleichzeitigkeit vielfacher zeitlicher Dimensionen. Wie auch in in der Arbeit Dario Srbic ist es eine Endlosschleife scheinbar liebevoller und zugleich penibler Gewalttaten, die sich anhäufen und zu­nehmend bedrohlicher den Raum einnehmen. Stilistisch referenziert die Künstlerin ihre vorange­gangen Arbeiten. In Love in the Time of Cholera, and Other Plaques vermischen sich wesentliche Elemente und Materialien vergangener Performances, wie [F]acts of Violence (2019) oder Lying with my Partner (2017). Sei es die Bearbeitung und das Verbrennen von Textilen mit ei­nem Bügeleisen, die sauber verpackten (nun) Ziegelsteine oder die verwendeten Farben. Die Wie­derholung von Handlungen und Vorgängen, das allseits Intuitive und Unbewusste, aber auch der prozedurale Charakter sind wesentliche Faktoren in der Installation im HEW aber auch verinner­lichtes Muster in den Arbeit der Künstlerin. Sie ist eine Referenz auf den freudschen Wiederho­lungszwang. „Er [der Analysierete] reproduziert es nicht als Erinnerung, sondern als Tat, er wie­derholt es, ohne natürlich zu wissen, daß [sic!] er es wiederholt.“3. In Katz neuer Installation erfährt das Unbewusste eine völlig neue Ebene. Indem die Installation selbstständig ohne die Anwesen­heit der Künstlerin arbeitet, verkörpert sie den automatisierten Prozess des Unbewussten im Hin­tergrund unserer geistigen Wahrnehmungen. Die Psyche ist etwas, das sich nur peripher vom Menschen steuern lässt. Der Titel des Werks bezieht sich auf das Buch Love in Time of Cholera (1985) der Autorin Gabriel Garcia Marquez, an das sich Katz in den vergangenen Wochen der Corona-Pandemie regelmäßig erinnert. Kontraste und Parallelen die eine Mehrdeutigkeit generiert.

Ein offenes Fenster für Alternativen
Die Apokalypse wird vielfach mit etwas Negativem, einem Weltuntergang oder dem über uns einbrechenden Unheil in Verbindung gebracht. Hingegen stammt ihr etymologischer Ursprung aus dem Griechischen und meint die Enthüllung oder in christlicher Deutung eine Offenbarung. Beobachten wir das aktuelle Weltgeschehen, so kann man das Wesen einer Apokalypse in vielfacher Weise in den verschiedensten Momenten wahrnehmen. Aus unserer erzwungenen distanzierten Betrachtung öffnen sich nun Fenster, um in Alternativen zu denken. Das House for the End of the World reagiert als ein dystopisches Heiligtum. Der Besucher ist dazu eingeladen mit diesem in einen Dialog zu treten. Es ist eine rezeptionsästhetische Ausstellungspraxis die aus der notgedrungenen Lage in den digitalen Raum verlagert wird. Berechtigter Weise stellt sich die Frage, welche Chancen ein Live-Stream als Alternative bietet und in welchem Maß ein Dialog zwischen Ausstellung, Kunst und Betrachter über eine digitale Übertragung überhaupt entstehen kann? Wir erleben aktuell eine Fülle an kulturellen Angeboten in den sozialen Medien wie auch der Zugang zu digitalen Ausstellungen. Sie sind auf der einen Seite eine Möglichkeit die Präsenz der Kulturschaffenden aufrechtzuerhalten und auf der anderen Seite sind die Angebote ein Mittel der Fortführung des kulturellen Lebens. Sowohl für die Vor- und Nachbereitung eines Ausstellungsbesuches oder für die Recherche, ist die digitale Sammlung und Ausstellung ein nützliches Instrumentarium. Der Live-Stream des HEWs kann für Viele demnach ein Alternative sein, welches letztendlich dem Wesen dieser „apokalyptischen“ Zeit entspricht. Offenkundig, der Stream besitzt seine Grenzen. Der Zuschauer steht in einer unausweichlichen Abhängigkeit zum Spektrum der Kamera und deren Führung. Er kann sich nicht wie gewohnt frei bewegen und ist in seiner Wahrnehmung bevormundet. Dieser Gedankengang lässt sich noch dahingehend kunsttheoretisch weiterspinnen indem man fragt, ob die ausgestellte Kunst überhaupt einen Betrachter bedarf, oder ob sie ihrer eigentlichen Bestimmung der l'art pour l'art nachgehen sollte. Am Ende kann ich hier nur für mich selber sprechen und stelle die Frage neu: Die Kunst braucht keinen Betrachter, aber braucht der Betrachter die Kunst? Ich beantworte sie mit ja, genau jetzt und in Zukunft sowohl digital als auch vor allem analog.